Queen Victoria ist auch bekannt als „Großmutter Europas“. Diesen Titel hat sie ihrer ambitionierten Heiratspolitik zu verdanken. Und mit ihren Ehe-Arrangements prägte sie das Schicksal eines ganzen Kontinents.
Queen Victoria fungierte als royale Ehestifterin
Queen Victoria prägte mit ihrer ambitionierten Heiratspolitik das Schicksal Europas. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verheiratete sie ihre Kinder mit Prinzen und Prinzessinnen vom ganzen Kontinent. Dadurch stärkte sie einerseits die politischen Beziehungen Großbritanniens, und andererseits ihren eigenen Einfluss. Als royale Ehestifterin formte sie das moderne Europa – und zerstörte es fast.
Eine britische Prinzessin auf dem deutschen Thron
Die erste royale Ehe, die Queen Victoria engagierte, war die ihrer ältesten Tochter und Namensvetterin, Prinzessin Victoria, mit dem preußischen Thronfolger Friedrich Wilhelm. Als Prinzessin Victoria gerade einmal 11 Jahre alt war, traf sie den damals 19-jährigen preußischen Prinzen erstmals, als Friedrich Wilhelm zusammen mit seinen Eltern Großbritannien besuchte. Friedrich Wilhelm soll direkt angetan gewesen sein von der neugierigen Prinzessin und begann eine Brieffreundschaft mit ihr.
Das dürfte ganz zur Freude des britischen Königspaares gewesen sein, denn Queen Victoria und ihr Mann Prinz Albert sollen bereits damals Pläne für eine Heirat ihrer Tochter mit dem künftigen preußischen König geschmiedet haben. Als Friedrich Wilhelm einige Jahre später noch einmal in Großbritannien war, hielt er letztlich um die Hand der 15-Jährigen an. Queen Victoria und Prinz Albert stimmten begeistert zu – allerdings unter der Bedingung, dass die Hochzeit nicht vor Prinzessin Victorias 17. Geburtstag stattfindet.
Die Verlobung seiner Tochter mit Prinz Friedrich Wilhelm dürfte besonders Prinz Albert gefreut haben. Der gebürtige Deutsche teilte nämlich die liberalen Ansichten des jungen preußischen Prinzen. Prinz Albert hoffte wohl, dass Friedrich Wilhelm Preußen mit Victorias Unterstützung liberalisieren und damit eine Vorbildfunktion für andere deutsche Staaten einnehmen könnte. Das wäre für Großbritannien ein wichtiger politischer Schritt gewesen, um in Deutschland Verbündete zu finden. Victoria und Friedrich Wilhelm heirateten schließlich 1858. Nach dem Tod von Friedrich Wilhelms Vater 1888 bestiegen sie den deutschen Kaiserthron. Ihr ältester Sohn war der spätere Kaiser Wilhelm II.
Victorias Enkelkinder saßen auf den Thronen Europas
Auch Queen Victorias ältester Sohn und Thronfolger, Edward, heiratete eine europäische Prinzessin: Alexandra von Dänemark. Sie wurde nach Victorias Tod 1901 an Edwards Seite britische Königin. Zu ihren Kindern zählte der spätere König George V.
Queen Victorias zweitälteste Tochter Alice heiratete Großherzog Ludwig IV. von Hessen und bei Rhein. Deren Tochter Alix wiederum heiratete niemand geringeren als Zar Nikolaus II. von Russland, der somit ein Schwieger-Enkel von Queen Victoria war. Auch diese Heirat war natürlich von großer politischer Bedeutung für Großbritannien. Vor allem verbanden die Eheschließungen von Victorias Kindern und Enkelkindern drei der wichtigsten europäischen Mächte im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Das Zerbrechen der engen Verbindungen zwischen den Herrschern dieser Länder hatte fatale Folgen für den ganzen Kontinent.
Arrangierte Ehen als politisches Instrument
Wie „history.com“ die britische Autorin und Historikerin Deborah Cadbury zitiert, hatten Queen Victorias Nachkommen Zugang zur „exklusivsten Dating-Agentur der Welt“. Die Ehen ihrer Kinder und Enkelkinder waren handverlesen – von der Monarchin höchstpersönlich. Von ihren neun Kindern und 42 Enkeln saßen sieben auf den Thronen Europas in Deutschland, Spanien, Norwegen, Russland, Rumänien, Griechenland und natürlich Großbritannien. Mit ihrer aktiven Heiratspolitik wollte die Königin aber nicht nur eine Großfamilie erschaffen.
Wie history.com schreibt, glaubte Victoria, durch arrangierte Ehen die Politik in Europa beeinflussen zu können. „Jede Ehe war eine Form von Soft Power“, wird Deborah Cadbury zitiert. Die Königin, die 63 Jahre auf dem britischen Thron saß, wollte in Europa konstitutionelle Monarchien nach britischem Vorbild etablieren – vor allem, um unter ihren Nachfahren Verbündete für Großbritannien zu finden. Mit ihrem „Matchmaking“ hat Queen Victoria das moderne Europa des 20. Jahrhunderts geformt – und beinahe zerstört.
Eine royale Großfamilie zerbricht
Denn nicht alle royalen Ehen liefen so, wie es sich Queen Victoria vorgestellt hatte. Victorias schwierigstes Enkelkind, Wilhelm II., war im Gegensatz zu vielen seiner Cousins und Cousinen nicht von seiner Oma zu kontrollieren. Dabei glaubte Queen Victoria lange, die Ehe seiner Eltern sei eines ihrer erfolgreichsten Arrangements gewesen. Als Wilhelm II. dem Krieg immer näher kam, schrieb seine Mutter Victoria, die in Deutschland als Kaiserin Friedrich bekannt war, 1897 an Queen Victoria: „Ich denke mit Schrecken an die Zukunft. Es macht einen wahnsinnig, an all das Elend zu denken, das noch kommen mag.“
Anfang des 20. Jahrhunderts zerbrachen langsam die Verbindungen zwischen den europäischen Mächten. Die Länder wurden immer nationalistischer, es bahnte sich eine Eskalation an. Die royalen Cousins und Cousinen standen sich auf gegnerischen Seiten gegenüber. Die ohnehin angespannte Situation innerhalb Europas blaublütiger Großfamilie half nicht gerade dabei, die Konflikte zu schlichten. So war George V. entschiedener Gegner der Politik seines Cousins Wilhelm II. Der Tod der gemeinsamen Großmutter im Januar 1901 zerschnitt das letzte Band, das die Herrscher noch zusammenhielt. Die diplomatischen Beziehungen, die Queen Victoria durch ihre Heiratspolitik gestrickt hatte, zerbrachen.
Cousins auf dem Schlachtfeld
Das Resultat war fürchterlich. Dem Ersten Weltkrieg, der am 28. Juli 1914 begann, fielen mehr Menschen zum Opfer als jedem anderen Krieg zuvor. Vier Jahre lang bekämpften sich Europas Mächte auf dem Schlachtfeld. Auch über zehn Jahre nach ihrem Tod hallte die ambitionierte Heiratspolitik von Queen Victoria auf dem Kontinent nach. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs mussten viele ihrer Nachkommen ihren Thron räumen. Die Monarchien in Russland und Deutschland wurden abgeschafft. König George V. konnte seinen britischen Thron gerade noch retten, indem er 1917 den Familiennamen vom deutschen Sachsen-Coburg und Gotha, das auf Prinz Albert zurückging, ins englische Windsor änderte. Damit kappte er die letzte Verbindung zu seiner deutschen Verwandtschaft.
Doch auch heute hat Queen Victorias Heiratspolitik einen Einfluss auf Europas Adelsfamilien. Die meisten derzeitigen Monarchen stammen von Queen Victoria und Prinz Albert ab. Dazu zählen neben dem britischen König Charles III. unter anderen Felipe VI. von Spanien, Margrethe II. von Dänemark und Carl XVI. Gustaf von Schweden. In Zeiten, in denen Monarchen kaum noch politische Macht haben, und vor allem immer mehr Bürgerliche in royale Familien einheiraten, spielt das aber kaum noch eine Rolle.